1988, US-Germanisten in Schleswig-Holstein in: DIE ZEIT (St. Olaf College, Northfield, MN)
Bildungsreise: DIE ZEIT
Eine volle Dosis Deutschland
Amerikanische Germanisten erkundeten Schleswig-Holstein
„Den Historiker Reppmann nennen sie alle nur Yogi,
obwohl er alles andere ist als ein in sich versunkener Asket:
Er gibt den Fremdenführer, Eintänzer, Conférencier und Maître de Plaisir in Personalunion.“
28. Oktober 1988 von Markus Asam
Da oben in Montana müssen die Farmerkinder jetzt kräftig mit anpacken, wenn es gilt, Pfosten für die Viehgatter in den Boden zu rammen. Mag sein, daß sie statt dessen lieber bei ihrer Lehrerin Inge Deutsch pauken würden. Doch Inge ist weit weg.
Inge sitzt an Deck eines Bootes, das auf die Hallig Gröde zuhält – und hat sich selbst wieder ans Buchstabieren der German language begeben. "Was meint Blanker Hans, bitte?" Ach so, die Nordsee. The German Ocean. In Montana gibt es nur Prärie und Gebirge, und auf einer Fläche, größer als beide Teile Deutschlands zusammen, leben weniger Menschen als Köln Einwohner hat. Die Hauptstadt ist so klein wie Husum. Isn’t that funny?
Zwei Wochen lang erkunden Inge und weitere 20 Germanisten aus den USA norddeutsches Gelände, Schleswig-Holstein vor allem, mit Abstechern nach Hamburg und Berlin. Das ist keine Sightseeing-Tour durch good old Europe, sondern eher ein mobiles Fortbildungsseminar. Das Deutschlandbild der Pädagogen, in den Staaten entstanden, soll mit der Realität vor Ort konfrontiert und, wo nötig, korrigiert werden.
Was weiß man jenseits des Ozeans schon von der Bundesrepublik? Hunderte von Oktoberfesten gibt es in Amerika, jedes mit einem Hofbräuhaus: Bier und Sauerkraut, die Umrisse von Haidelbörgschloß auf Lebkuchenherzen gespritzt: Yeah, that’s Germany.
Na ja, beinahe. Den Rest lernen die fast ausschließlich weiblichen Kandidaten, die als Kinder mit ihren – häufig deutschen – Eltern nach Amerika kamen oder dort geboren wurden, gerade kennen. Begleitet werden sie von Professor La Vern J. Rippley, der die erste Aktion nach dem Motto "Deutschland heute" im vergangenen Jahr gestartet hatte. Rippley kommt aus Minnesota und forscht vor allem über deutsche Auswanderer, unter denen Schleswig-Holsteiner stark vertreten waren. Die Organisation vor Ort liegt in Händen der Herren Schütz und Reppmann vom Flensburger Institut für regionale Forschung und Information.
Den Historiker Reppmann nennen sie alle nur Yogi, obwohl er alles andere ist als ein in sich versunkener Asket: Er gibt den Fremdenführer, Eintänzer, Conférencier und Maître de Plaisir in Personalunion. Er muß seine Herde bei Laune halten, denn das Quick-pick-Programm ist anstrengend, und dafür gibt es einen Grund: Die Teilnehmer sollen ein Arbeitspapier anfertigen, das dann als Nachweis für geleistete Weiterbildung gilt. Rippley ist der Prüfer und vergibt die graduate credits – eine Art Zeugnis darüber, daß die amerikanischen Pädagogen jetzt ein einigermaßen ausgewogenes Wissen über die Bundesrepublik weiterzugeben fähig sind. Labskaus statt Sauerkraut.
Aber Schüler sind bockig, auch noch als Lehrer. Yogi wünscht sich ein möglichst großes Sternenbanner, als er über den Husumer Wochenmarkt stürmt, um alle zusammenzuhalten. Seine Gruppe verbummelt sich im Gewusel zwischen den Buden. Jemand kauft Hosenträger. Nun aber schnell weiter zur Dichtergruft von Theodor Storm oder Fontäin? Jedenfalls ein deutscher Denker. Der örtliche Reiseleiter beschreibt lakonisch die hiesige Praxis, den Stauraum in Grabkammern zu nutzen: "... und irgendwann fiel der Sarg dann hinten von der Stange, wenn vorn nachgeschoben wurde." Armer Theodor, Friede seinen gerüttelten Gebeinen. Wir gehen ins Kloster um die Ecke.
Die Amerikaner heißen Gretel, Karen, Marja, Paul, Heidi, Margot, Inge und mit Nachnamen Carstens, Katzenmayer, Landschulz, Popelka. Geboren wurden sie in Karlsruhe, Wiesbaden, Weilburg, in der Eifel, in Polen oder in Finnland. Sie wohnen in Oregon, Iowa, Wisconsin, Texas und North Dakota. Ihre Arbeitgeber: Elementary-, Junior High-, Highschools und Colleges. Der Dialekt ihrer Eltern färbt noch ihr eigenes Deutsch, hessisches Gebabbel antwortet auf badisches Schwätze, ein östlich gegrolltes R im Zwiegespräch mit dem zungenspitzigen S aus Skandinavien. Es geht darum, wie man Schabernack schreibt und ob Norddeutsche offener sind als Bayern. Deutschland ist ziemlich eng, nicht wahr? Und wer ist Barschel? "Kann man sagen, er ist ein Leisetreter?"
Heidi war der Meinung, in Deutschland sei alles geordnet und in Ordnung. Jetzt will sie, wollen die anderen kaum glauben, was Leisetreter Barschel so alles losgetreten hat. Und dieser Mister Engholm, er sieht wirklich sehr gut aus, fast zu gut für einen Mann. Nein, in Amerika las man kaum darüber, ein bißchen in Time oder Newsweek. Waterkantgate klingt in ihren Ohren gut.
Grenzen seien das Thema des Workshops, sagt Rippley, und davon gibt es in diesen Tagen genug. Die Lehrer hören Moritaten von deutsch-dänischen Blutbädern, von Kirchenzwist und von Dialekt-Ketzern, die Plattdeutsch schnacken auf urfriesischem Territorium. Überall stößt man auf Grenzen: Seehunde sterben, die Natur leidet, die Menschen leiden mit, und die Deutschen scheinen Champions zu sein auf diesem Gebiet. Der Zaun bei Ratzeburg und die Mauer in Berlin. Aber die Mauer ist doch nicht mehr so schlimm wie früher? Die bangende Fragerin hat die Videokamera des Ehemanns mit und soll das für ihn filmen. Ach, sie bekommen die volle Dosis Deutschland. Dabei hatten sie die Enge ohne Zögern in Gemütlichkeit umgedeutet, wollten alles positiv sehen.
Wenn sie nachts in die Akademie Sankelmark zurückkehrt, ist die Gruppe geschafft. Der wievielte Herzog Friedrich hat wann gegen wen scharmützelt und warum? Verklappung ist irgend etwas mit Säure. Sie sprechen alle gern und gut Deutsch, aber am Ende des Tages verfallen sie in ein müdes Radebrechen. Die Akademie, seit Jahrzehnten ein idyllischer Rahmen für politisch Bildungswillige verschiedenster Couleur und staatlich bezuschußt, liegt im Wald bei Flensburg. Was haben wir morgen vor? Den Dom in Schleswig? Gute Nacht.
Zur Erbauung besucht man einen Klavierabend, einmal liest Gabriel Laub aus seinen Werken. Die Stimmung ist gut, Yogi kann sich ein bißchen runterdrehen, und Professor Rippley versenkt sich in die Bücher, die er auf den täglichen Etappen für seine College-Bibliothek einsammelt. Ihn interessiert einfach alles, und sei es die Mitschrift der "Landtagsdebatte zur Sprache und Kultur des friesischen Bevölkerungsteils".
Nach einigen Tagen haben sich die Gleichgesinnten in der Reisegruppe gefunden: Die eher Gemächlichen frühstücken zusammen und spähen im Programm die Lücke fürs Eiscafe aus. Am Nebentisch lassen die Wissenshungrigen ihre weichen Eier abkühlen über dem Problem, ob man als Westdeutscher seine Rente mitnehmen dürfe, wenn man in die DDR umziehe. Die Diskussion driftet ab zur Klärung der Verdienstchancen im Straßenbau. Eine dritte Fraktion stört mit der Frage nach der Übersetzung von poetic license. Diese dichterische Freiheit wird auch benötigt beim Schmieden holpernder germanischer Reime. Und dann die Sprüche aus dem Schatzkästlein deutschen Bildungsgutes: Ein schöner Rücken kann auch entzücken. Don Giovanni ist nicht Don Johnson aus der Serie "Miami Vice", mein lieber Junge.
Die Betten auf der "Passat" sind klein und vor allem sehr kojig. Morgens im Waschraum werden die Beulen verglichen, die man sich wegen der geringen Kopffreiheit gestoßen hat. Die Fete am Vorabend in Lübeck bei Helga Eicke war nett. Die Mutter von Yogis Studienfreund führt schon länger ein Open House. Der Bürgermeister war gekommen und hatte die deutsch-amerikanische Freundschaft in die laufende Kamera gelobt.
Im Husumer Schloß sitzt Kreispräsident Zühlke und ist verwirrt. Während des "Informationsgesprächs" ging es plötzlich nicht mehr um friesische Trachtenhäubchen, sondern um Hitler und Volkstum. Zühlke hatte pflichtbewußt beteuert, daß sich die deutsche Jugend sehr wohl mit der Vergangenheit auseinandersetze. Diese Bemerkung stößt bei den Amerikanern auf Unverständnis und Abwehr. Die Jugend habe nichts mit den Sünden der Väter zu tun, meinen alle, und plädieren für die Gnade der späten Geburt. Zühlke deodoriert den Ruch von Nestbeschmutzung mit dem Hinweis, daß die deutsche Geschichte ja nicht ausschließlich jenes dunkle Dutzend Jahre umfasse. Na also. Die Amerikaner sind zufrieden.
Nach dem Krieg, als ihre geflüchteten Eltern noch vor den ugly Nazis schauderten, haben die Lehrerinnen und Lehrer Germanistik studiert. Nun sind sie hier, back to the roots, das kleine Glück Heimkehr im Herzen, und das wollen sie sich um keinen Preis eintrüben lassen. Schon gar nicht, wo doch drüben, von Boston bis L. A., das Wort "Deutschland" zunehmend lieblicher klingt. In den Staaten hätschelt man Heimat und regionale Traditionen.
Vier Stunden später schippert die Gruppe zur Hallig, friedlich wie ein Hausfrauenverband auf Butterfahrt. Das Meer glitzert ein wenig, man kann weit gucken, Deutschland ist nicht ständig eng, und da hinten liegt Amerika. Der Käpt’n nuschelt etwas über Bojen und Priele durch den Bordlautsprecher, und Professor Rippley lauscht aufmerksam. Leider kann er nichts zur Etymologie von "Blanker Hans" erfahren.
Beim Landgang auf der Hallig Gröde nölt Margot ein bißchen, weil man auf Amrum Shopping gehen konnte und hier nicht. Ein deutscher Tourist starrt lange auf ihre beturnschuhten Füße und kriegt prompt zu hören: "Ja ja, wir Amerikaner haben große Füße, gell?" Die Warften sind sehr geeignet als Podest fürs tägliche Gruppenphoto. Margot feixt ein überzeugendes cheese. Nur Inge hat einen entrückten Ausdruck im Gesicht.
Da oben in Montana müssen die Farmerkinder jetzt kräftig mit anpacken. Nach ihrer Rückkehr wird Inge ihnen von Germany erzählen. Vielleicht werden sie künftig mit etwas mehr Eifer Deutsch lernen. Vielleicht nur, weil das immer noch besser ist, als Pfosten für Viehgatter einzugraben.