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Keine Ahnung, nie gehört - Mutmaßungen zum 18. März 1848: Demokratie-Geschichte (Gedenktag?!)

by Yogi Reppmann - September 12, 2020

Warum nur wollen so viele Deutsche nichts von der Geschichte ihrer Demokratie wissen?

Ein gebildeter deutscher Bürger spricht zu uns: Georg Cremer, geboren 1952 in der Bundesrepublik, Volkswirtschaftler und Statistik-Experte, Generalsekretär eines der größten deutschen Wohlfahrtsverbände. Er habe, so gab er vor wenigen Tagen in einem Interview mit derSüddeutschen Zeitung zu Protokoll, erst in der Fremde, während eines Aufenthalts im diktatorisch beherrschten Indonesien der achtziger Jahre, "verstanden, wie wichtig Rechtssicherheit" sei. Seit damals habe er "eine Dankbarkeit entwickelt, Bürger einer gefestigten Demokratie zu sein".

Der Leser stutzt und staunt. Er fragt sich, ob es sein kann, dass dieser weltgewandte Mann nicht weiß, wie lange es in Deutschland gedauert hat, bis hier Rechtssicherheit und Demokratie Wirklichkeit wurden. Ob er nie etwas erfahren hat über all die Kämpfe, die es von derFranzösischen Revolution bis zur Bundesrepublik brauchte, von all den Frauen und Männern, die dieser Freiheit durch bittere Niederlagen, Krisen und Katastrophen hindurch den Weg bereitet haben. Nein, davon hat dieser wackere deutsche Bildungsbürger ganz offensichtlich nie etwas gehört. Denn sonst hätte es nicht der Erfahrung einer Diktatur am anderen Ende der Welt bedurft, um für den demokratischen Rechtsstaat "dankbar" zu sein.

Ähnlich verblüfft der Kommentar von Katja Thorwarth, einer jungen Journalistin, Online-Redakteurin der Frankfurter Rundschau. Die Parole "Wir sind das Volk",so schreibt sie nach den Exzessen in Sachsen, gehöre "auf die Müllhalde der Geschichte". Allerdings scheint sie diese Geschichte oder Müllhalde nicht sonderlich gut zu kennen, erwähnt sie doch mit keiner Silbe den Ursprung des missbrauchten Wortes.

Er findet sich natürlich weit vor der Pegida-Szene von heute, weit auch vor den Tagen von Leipzig 1989. Der Satz stammt aus dem 19. Jahrhundert. Ferdinand Freiligrath formulierte ihn im Revolutionsjahr 1848, nach Versen des schottischen Barden Robert Burns. Es sollte, wie Michail Krausnick 2010 zum 200. Geburtstag des Dichters in der ZEITschrieb, Freiligraths "bekanntestes politisches Gedicht werden, trostreich erinnert noch von den Eingekerkerten im KZ Buchenwald, gern auch gesungen von den Liedermachern der siebziger Jahre, im Westen wie im Osten". Freiligrath hatte es dem Ancien Régime entgegengeschleudert: "Nur, was zerfällt, vertretet ihr! / Seid Kasten nur, trotz alledem! / Wir sind das Volk, die Menschheit wir, / Sind ewig drum, trotz alledem! / Trotz alledem und alledem: / So kommt denn an, trotz alledem! / Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht – / Unser die Welt trotz alledem!" Nicht dieses leidenschaftliche Wort, dies Verlangen nach Freiheit, Brot und Recht, gehört auf den Müllhaufen der Geschichte, sondern das Ressentiment derer, die es heute als völkische Parole missbrauchen.

Schade. Unendlich schade: Die meisten Deutschen wissen nichts von ihrer Demokratie- und Parlamentsgeschichte, nichts von der großen Chronik der Freiheit. Und es sind gerade die vermeintlich Aufgeklärten, es sind die professionellen Politikmacher und -vermittler in den Parteien und Medien, die hier indolent versagen. Sie kennen weder die Vorkämpfer der deutschen Demokratie zur Zeit der Französischen Revolution noch die Vormärzstreiter, die 1832 auf dem Hambacher Fest Flagge zeigten (und zwar die jetzt in Dresden ebenfalls missbrauchte schwarz-rot-goldene), noch die Revolutionäre und Verfassungsautoren von 1848, noch die großen Parlamentarier des Kaiserreichs.

Gerade sie, von den Genannten uns zeitlich am nächsten, scheinen besonders vergessen. Im Londoner und Pariser Parlament sind die Vorgänger selbstverständlich gegenwärtig, ob Fox oder Jaurès. Im Bundestag hingegen wird man wohl niemanden finden, dem die Taten und Ansichten von Lasker, Richter oder Windthorst noch ein Begriff sind. Und über August Bebel weiß der gelernte Sozialdemokrat vielleicht gerade noch, dass der eine goldene Taschenuhr besaß.

Wie grotesk ist schon allein der Unwillen, den 18. März zum Gedenktag zu erklären! Den Tag, als 1793 in Mainz die erste Republik auf deutschem Boden ausgerufen wurde, als 1848 in Berlin die Revolution triumphierte und 1990 die Bürger der DDR in ihrer ersten freien Wahl den Weg für die Wiedervereinigung frei machten. Eigentlich müsste dieser Tag Nationalfeiertag sein, aber bis heute hat er es nicht einmal zum offiziellen Gedenktag geschafft.

Warum? Warum nur weiß die Republik nichts von ihren Ursprüngen, von ihrer politischen Leitkultur? Will es offenbar nicht wissen?

Das hängt vor allem mit der Gründungslegende der Bundesrepublik zusammen. Es ist ein zähes "Narrativ" (wie der Historiker à la mode sagt), über Jahrzehnte quer durch alle politischen Milieus kolportiert. Demnach haben erst die amerikanischen Missionare, unterstützt von Briten und Franzosen, 1945 die Demokratie nach Dunkeldeutschland gebracht und die Eingeborenen, politische Analphabeten und Heiden, die weiter Wotan Hitler huldigten, zu frommen Republikanern gemacht. Der Bundeskanzler Helmut Schmidt fasste dieses Narrativ einmal in das etwas beklemmende autobiografische Bekenntnis, er habe "von Demokratie das erste Mal im Kriegsgefangenenlager 1945 gehört". Er habe überhaupt nicht gewusst, was das sei. Die Demokratie, so bekommt man es noch immer in den Festreden zum "Tag der Deutschen Einheit" zu hören, war "ein Geschenk" an die Deutschen, eine Art Überraschungs-Ei, das ihnen letztlich ein göttlicher Zufall beschert hat.

Die Ignoranz ist zäh

Tatsächlich aber war die deutsche Demokratie hart erkämpft. Denn schon lange vor der Zerstörung Deutschlands 1933 ff. gab es überall Parlamente und Parteien, hatte sich in Stadt und Land, in immer neuen Anläufen und Demokratisierungsschüben, politisches Leben entfaltet. Ohne diese parlamentarische Erfahrungsbasis hätte das Grundgesetz, hätte unsere Republik von 1949 trotz "Wirtschaftswunder" überhaupt keine Chance gehabt.

Es sind faszinierende Biografien und Schicksale, die sich mit dieser Geschichte verbinden. Ein Mann wie Adam Itzstein zum Beispiel: als Student Mitglied im Mainzer Freiheitsklub, Teilnehmer am Hambacher Fest 1832 und Organisator der demokratischen Liberalen, Förderer Robert Blums und Friedrich Heckers, zuletzt im Frankfurter Parlament. Ein großartiger, leidenschaftlich kluger politischer Kopf, dem man für seine Arbeit, um das Wort noch einmal aufzugreifen, nur "dankbar" sein kann. Oder eine Frau wie Mathilde Anneke, geboren 1817 im Bergischen an der Ruhr: Früh machte sie sich als Journalistin selbstständig – damals natürlich unerhört –, engagierte sich in radikaldemokratischen Bünden und zog 1849 zusammen mit ihrem Mann für die Verfassung der Paulskirche in die Schlacht. Nach der Niederlage fand sie Asyl in den USA, wo sie weiter für die Freiheit stritt: gegen die Sklaverei und als Suffragette für die Rechte der Frauen.

Itzstein, Anneke … und all die anderen: Robert Blum und Johann Jacoby, Riesser, Raveaux und Wilhelm Schaffrath, Emma Herwegh, Henriette Venedey und Amalie Struve – warum nur sind sie in Deutschland vergessen?

Weil man sie als Gescheiterte betrachtete, als Besiegte? Gescheitert sind auch viele Freiheitskämpfer und politische Avantgardisten in anderen Ländern, und doch hat man ihnen Denkmäler errichtet und nennt ihre Namen. Was wurde unter Napoleon aus der Republik, für die ein Condorcet gestritten hatte? Was wurde aus dem Polen, für das Kościuszko in den Krieg gezogen war? Was aus dem ersten freien Staat Lateinamerikas, den Toussaint Louverture auf Hispaniola erkämpft hatte? Was aus Mazzinis freier Republik Italien?

Gescheitert sind sie zu ihrer Zeit alle, und doch käme niemand in Frankreich oder Polen oder in Haiti auf die Idee, ihre Namen aus der kollektiven Erinnerung zu löschen. Als in Spanien 2012 der 200. Jahrestag des ersten Grundgesetzes, der Verfassung von Cádiz, mit Pomp begangen wurde, fragte niemand groß danach, wie lange sie tatsächlich in Kraft geblieben war. Dagegen ist über ein ähnliches Volksfest zum 150. Jahrestag der Paulskirchenverfassung 1999 nichts bekannt.

Vor allem aber, "trotz alledem und alledem": Die Niederlage der deutschen Demokraten und Republikaner war ja eben nicht endgültig. 1945, als die antidemokratische Rechte, als der preußische Militärstaat und der völkische Führerstaat gemeinsam zur Hölle fuhren, schlug ihre Stunde, die Stunde einer stabilen, vitalen deutschen Republik. Damals fiel die Entscheidung leicht, die im Bombenkrieg verwüstete Frankfurter Paulskirche wiederherzustellen: zum 100. Jahrestag der Revolution 1948, als Symbol einer deutschen Kontinuität der Freiheit.

Heute steht in Koblenz am Deutschen Eck wieder das 1945 abgeräumte Kaiserstandbild von 1897 auf dem Postament, werden das Berliner Hohenzollernschloss und die Potsdamer Garnisonkirche rekonstruiert. Mehr als etwas verlegene kunsthistorische oder städtebauliche Argumente lassen sich dafür allerdings kaum mehr finden, und es ist nicht ohne Komik, dass in Berlins barocken Plattenbau ein Völkerkundemuseum einziehen soll.

Die Ignoranz ist zäh. Selbst das Engagement des Bundestags hält sich in Grenzen. Zwar haben seine prägenden Präsidenten der letzten Jahre manch gute Rede zur Tradition gehalten. Doch blieb und bleibt dies Bemühen halbherzig, sporadisch, murmelnd, ohne dauerhafte Konsequenz. Es gibt vonseiten des Bundestags keine öffentlich wirksame Erinnerung an Deutschlands Parlamentarier vor 1933, keine Dokumentationsstätte, keinen Erinnerungslernort, nichts.

Besonders traurig zeigt sich dieses Desinteresse in der Paulskirche. Während nur wenige Meter entfernt mit Verve eine putzig-butzige Altstadtsimulation hochsprießt, gammelt das alte Heiligtum der Republik auf ächtfrankfurtsche Art vor sich hin. Es ist an der Zeit, dass der Bundestag es in seine Obhut nimmt und hier einen angemessenen, zeitgemäßen, einen lebendigen Ort der Demokratiegeschichte schafft.

Dabei wollen wir nicht ungerecht sein: Das Eulchen der Minerva war fleißig, vieles wurde seit 1945 gesichtet und erforscht. Die Protokolle des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents in Mainz sind längst ediert, genauso wie die des "Jakobinerklubs" von Landau in der Pfalz und die ersten deutschen Verfassungsentwürfe aus der Zeit um 1800. Zum Hambacher Fest erschienen, im Rhythmus der Jahrestage, eine Vielzahl von Büchern, zur Wiederkehr des Revolutionsjubiläums 1998 etliche wissenschaftliche Großwerke und prächtige Ausstellungskataloge. Und wenn uns auch eine Biografie Adam Itzsteins, die immer noch fehlt, mehr interessierte als eine weitere über Metternich, so sei gleich an Helmut Reinalters großartiges Biographisches Lexikon der demokratischen und liberalen Bewegungen in Mitteleuropa erinnert, das voriges Jahr in neuer Auflage erschienen ist. Oder an Walter Schmidts Reihe Akteure eines Umbruchs, die Porträts von Politikern aus der Zeit um 1848 versammelt und inzwischen den vierten gewichtigen Band erreicht hat. Herrlicher Lesestoff!

Doch das meiste bleibt im Kreis der Spezialisten und Experten, verschwindet in abgelegenen Zeitschriften, im akademischen Darknet. Denn es gibt kaum Vermittlung, es gibt keine nationale Institution, die Deutschlands demokratische Tradition ins öffentliche Bewusstsein rückt, ins politische Leben bringt. Die rührende "Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte" im badischen Rastatt ist, man kann es nicht anders sagen, ein Ort im Abseits: eine bloße Außenstelle des Koblenzer Bundesarchivs, ein kleines Museum (zur Untermiete in einem gewaltigen Barockschloss), das noch nie durch eine große Ausstellung auf sich aufmerksam machen konnte. Bundespräsident Gustav Heinemann hatte es 1974 gegründet, und eigentlich sollte es nur ein Anfang sein. Doch über diesen Anfang ist es nie hinausgelangt. "Nichts kann uns hindern", hatte Heinemann 1970 in seiner berühmten Ansprache zum Bremer Schaffermahl erklärt, "in der Geschichte unseres Volkes nach jenen Kräften zu spüren und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die dafür gelebt und gekämpft haben, damit das deutsche Volk politisch mündig und moralisch verantwortlich sein Leben und seine Ordnung selbst gestalten kann."

Ein vergeblicher Appell. Zwar gibt es seit 2002 eine "Kulturstiftung des Bundes" und schon seit 1993 eine "Deutsche Nationalstiftung", aber bis heute keine "Deutsche Demokratiestiftung". Was nicht weiter verwundert, zumal das demokratiehistorische Interesse auch der Parteien sich im allerengsten Horizont erschöpft. In der CDU reicht es gerade mal bis Adenauer, die SPD bleibt auf die Chronik der Arbeiterbewegung beschränkt, die Grünen haben noch nie etwas von einer deutschen Geschichte vor 1933 gehört, und die Linke wird wohl kaum je über die Debatte um den Unrechtsstaat DDR hinausgelangen.

Jammerschade aber auch, dass Deutschlands populäre Medien, vor allem das Fernsehen, hier einen wahren Schatz an spannenden Storys (mit pilcherkompatiblem Herz- und Schmerzanteil) links liegen lassen. Wenn man nur an die Geschichte der Herweghs denkt: wie Emma ihre Freischärler des Nachts durch die Wälder führt. Oder wie Carl Schurz, der spätere US-Innenminister, seinen Mitstreiter Gottfried Kinkel aus dem Berliner Gefängnis befreit. Wie Robert Blum vor der Hinrichtung am 9. November 1848 in Wien den letzten Brief an seine Frau schreibt. Wie Hecker 1873 aus den USA zurückkehrt und, immer noch als Freiheitskämpfer gefeiert, mit kritischem Blick durch Bismarcks Deutschland reist. Alles Dreiteiler, mindestens. Und während in New York ein Musical über den amerikanischen Revolutionshelden Alexander Hamilton triumphiert, geht hierzulande mal wieder Sissi auf Tournee. Vater dieser Schmonzette ist der erfolgsverwöhnte Librettist Michael Kunze, der für Udo Jürgens und andere Stars die Schlager schrieb. 1990 veröffentlichte er einen tausendseitigen Roman über Gustav Struve, den Mitstreiter Heckers: Der Freiheit eine Gasse. Wäre doch auch mal ein Musical!

Aber darauf werden Deutschlands Musikfreunde wohl vergebens hoffen. Für die meisten Landsleute bleibt die Demokratie eine ebenso geschichts- wie gesichtsloses Veranstaltung, die sie mit keinerlei historischer Gestalt, keinerlei Schicksal verbinden. Ein Geschenk eben, für das man den Amerikanern dankbar sein muss.

Doch diejenigen, die unsere Demokratie in Jahrhunderten vorbereiteten, hat dieses "Geschenk" viel, sehr viel gekostet. Dankbar dafür muss heute niemand mehr zu sein. Aber kennen sollte die Republik ihre Geschichte schon.

"Passanten, dieses Land ist frei" steht auf dem Schild in diesem Aquarell, das Johann Wolfgang Goethe 1792 malte. Es hängt an einem Freiheitsbaum der Französischen Revolution. Nicht ahnen konnte der Dichter, welche Bedeutung der Weiler im Hintergrund einmal erlangen würde: Er liegt in Schengen, wo 1985 Europa zum grenzenlosen Kontinent erklärt wurde. © Goethe-Museum Düsseldorf

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